Chronologie
einer Radikalisierung

Wie Telegram zur wichtigsten Plattform für Verschwörungs­ideologien und Rechts­extremismus wurde

Innerhalb der vergangenen drei Jahre entwickelte sich Telegram zur wichtigsten Plattform für Verschwörungsideolog:innen und Rechtsextreme im deutschsprachigen Raum. Mit dem Messengerdienst erreichen zahlreiche Kanäle täglich Hunderttausende – die Anzahl der Aufrufe einiger Nachrichten geht in die Millionen.

Der Messengerdienst wurde beispielsweise genutzt, um während der Coronapandemie die Proteste der sogenannten Querdenken-Bewegung zu organisieren und Verschwörungserzählungen über die Impfung zu verbreiten. Die auf der Plattform geteilten prorussischen Desinformationen schaffen es weit über die Chatverläufe hinaus, tief in die politischen Diskurse und Einstellungen Einfluss zu nehmen. Putsch- und Terrorpläne wurden öffentlich diskutiert und antisemitische Inhalte massenhaft verbreitet.

Mehrere „Alternativmedien“ erreichen über Telegram regelmäßig ein sechsstelliges Publikum und schaffen es so, selbst größere Redaktionen zu finanzieren. Staatliche Sanktionen werden umgangen, indem prorussische Desinformations-Influencer:innen über Telegram direkte finanzielle Unterstützung erhalten. Aktuell bauen Telegram und sein Gründer Pawel Durow diese Möglichkeiten sogar noch weiter aus: Telegram wird damit langfristig nicht nur zur Verbreitung, sondern auch zur internationalen Finanzierung von Desinformation und Verschwörungsideologien genutzt werden.

Nach wie vor hält sich der Glaube, Telegram würde nicht auf staatliche Anfragen reagieren und keinerlei Inhalte löschen. Ein Irrglaube. In der Vergangenheit zeigte sich, dass Telegram, wenn der Druck zu groß wurde und beispielsweise eine Sperrung in den App Stores von Google und Apple befürchtet wurde, durchaus reagierte – jedoch bisher nur willkürlich und unsystematisch.

Wie konnte Telegram in so kurzer Zeit zur wichtigsten Plattform für Verschwörungsideolog:innen und Rechtsextreme werden? Warum konnte sich die Plattform bisher fast jedem Versuch der Regulierung entziehen – und wann musste sie doch handeln? Kann oder will Telegram nichts gegen den Hass auf seiner Plattform unternehmen? Wer sind die aktuell relevantesten Akteur:innen auf der Plattform und wie viele Menschen erreichen sie dort? Was können wir in Zukunft von dem Messengerdienst erwarten?

In diesem neuen CeMAS-Digitalreport gehen wir diesen Fragen auf den Grund.

Die Kommunikation auf Telegram ist sowohl unmittelbar über Direktnachrichten, aber auch über sogenannte Kanäle und Gruppen möglich. Diese Kanäle und Gruppen spielten bei der Vernetzung der verschwörungsideologischen und rechtsextremen Szene eine große Rolle: Kanäle können durch Telegram-Nutzer:innen abonniert werden. Schreibt der Kanalbetreiber eine Nachricht, erhalten alle Abonnent:innen direkt diese Benachrichtigung. Die Kommunikation verläuft hier größtenteils unidirektional – teilweise gibt es auf Kanälen die Funktion, Beiträge des Kanals zu kommentieren oder über Emojis darauf zu reagieren. Die Größe eines Kanals ist unbegrenzt.

Neben den Kanälen findet die Kommunikation auch in Gruppen statt: In diesen können sich Nutzer:innen mit anderen Nutzer:innen unterhalten und dort auch Nachrichten – unter anderem von Kanälen – teilen. Viele der Gruppen auf Telegram haben einen regionalen Bezug. Die Höchstgrenze für Gruppen liegt bei maximal 200.000 Mitgliedern. Im Gegensatz zu anderen sozialen Netzwerken arbeitet Telegram nicht mit einem sogenannten Newsfeed, also eine auf die Nutzer:innen individuell zugeschnittene Startseite, die die Beiträge der Kanäle aggregiert. Telegram zeigt lediglich chronologisch an, in welchen Kanälen und Gruppen zuletzt kommuniziert wurde. Kanalbetreiber:innen sind deshalb besonders darauf angewiesen, dass ihre Nachrichten besonders häufig und aktuell in vielen anderen Gruppen diskutiert und durch andere Kanäle geteilt werden.

Es entsteht ein Nachrichtensystem, das Besonderheiten im Umgang mit der Moderation und Löschung von Inhalten mit sich bringt: Wird ein Kanal gelöscht, können immer noch viele Gruppen existieren, auf denen die Inhalte eines Nachfolgekanals geteilt werden. Diese Gründe führten dazu, dass die Identitäre Bewegung beschloss, 2018 über lokale Gruppen ein dezentrales Netzwerk auf Telegram zu schaffen. Ein System, das später durch weitere Akteur:innen übernommen wird.

2018 und 2019 wachsen die deutschsprachigen Kanäle des Milieus langsam, aber beständig. Oliver Janich und ein Kanal der Identitären Bewegung erreichen bis Ende 2019 etwa 40.000 Abonnent:innen – sie sind bei Weitem die reichweitenstärksten dieser Zeit. Im Dezember 2019 erreicht Janich mit seinen Nachrichten etwa 13.700 Aufrufe pro Nachricht.

2020: Während der Pandemie explodiert die Reichweite auf Telegram.

Mit Beginn der Coronapandemie entstehen auf etablierten sozialen Netzwerken wie Facebook zügig Gruppen, in denen die Pandemie verschwörungsideologisch uminterpretiert wird: Das Virus wird dort geleugnet, Maßnahmen zur Eindämmung werden abgelehnt und es wird ein personifiziertes Feindbild über die Auswirkungen der Pandemie geschaffen. Viele Plattformen geraten unter Druck, Desinformationen und Verschwörungserzählungen auf ihren Netzwerken einzudämmen.

Nach einem ähnlichen Prinzip wie dem der Identitären Bewegung beschließt am 24. April 2020 die damals etwa 60.000 Mitglieder große Facebook-Gruppe Corona Rebellen, lokale und dezentrale Gruppen auf Telegram aufzubauen. Dabei wollen sie auch einer möglichen Sperrung durch Facebook zuvorkommen.

Die gegründeten Telegram-Gruppen und Kanäle heißen unter anderem Corona Rebellen Düsseldorf, Nicht ohne uns Wesel und auch Querdenken 711 Stuttgart.

Mit Beginn der Pandemie konzentrierte ein großer Teil der verschwörungsideologischen und rechtsextremen Szene ihre Kommunikation auf Telegram. Hunderte Kanäle und Gruppen wurden erstellt und Kanäle, die vor der Pandemie bereits auf der Plattform vertreten waren, erreichten plötzlich Hunderttausende auf ihrer Plattform.


2021: Neue „alternative“ Medien etablieren sich in der Szene.

Im weiteren Verlauf der Pandemie gründeten sich zahlreiche „alternative“ Medienportale – feste Redaktionen veröffentlichen dort regelmäßig neue und professionell wirkende Inhalte. Laut eigenen Angaben finanzierten sie sich oft über Spenden aus der Szene, aber auch über Produkt- und Werbeplatzierungen auf den entsprechenden Webseiten und Telegram-Kanälen.

Wochenblick.at, Infodirect, AUF1, Boris Reitschuster und auch RT DE sind feste Größen der verschwörungsideologischen Szene geworden – im Jahr 2021 konnten sich viele dieser „Alternativmedien“ eine große Reichweite aufbauen und über diese zahlreiche Verschwörungserzählungen und Desinformationen verbreiten.


2022: Das Jahr der prorussischen Desinformations-Influencer:innen

Mit Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine im Februar 2022 veränderte sich auch die Informationslandschaft auf Telegram.

Innerhalb von nur drei Jahren hat sich Telegram zu einer der wichtigsten Plattform für das verschwörungsideologische und rechtsextreme Milieu entwickelt. Während der Pandemie aber auch darüber hinaus konnten sich hier verschiedene Akteur:innen ein Netzwerk aufbauen, in dem sie regelmäßig sechsstellige Aufrufzahlen erreichen können. Dieses große Publikum aber auch zahlreiche Funktionen und Erweiterungen der Plattformen führten dazu, dass sich viele der hier dargestellten Akteur:innen professionalisieren konnten. Sie können über ihre Verbreitung von Verschwörungserzählungen, Desinformationen, Rechtsextremismus und Antisemitismus mittlerweile genügend Geld durch Werbung oder Spenden einnehmen, um teilweise Redaktionen zu bezahlen.

Auf Telegram hat sich ein verschwörungsideologisches und rechtsextremes Universum gebildet.

Anders als von Rechtsextremen und Verschwörungsideolog:innen erhofft findet also auch bei Telegram eine Moderation in Form von Beschränkung und Einschränkungen von Accounts, Kanälen und Gruppen statt – wenn auch in weit geringerem Ausmaß als auf anderen sozialen Netzwerken.

Der Telegram-Gründer Pawel Durow suggerierte häufig, dass einer der Gründungsgedanken Telegrams sei, eine Plattform zu schaffen, die niemals auf staatliche Anfragen reagieren würde. Eine Plattform, die Redefreiheit als oberste Prämisse ansetzen würde.

Dieser Grundsatz brach häufiger an der Realität: Die Unternehmensgeschichte zeigt auf, dass Telegram auf Anfragen und Sperrungsersuche durchaus reagierte – in mehreren Ländern und auch mit Autokratien kam Telegram ins Gespräch.

Die Plattform hat in der Vergangenheit auf unterschiedliche Möglichkeiten der Moderation von Inhalten zurückgegriffen.

Die Maßnahmen reichen dabei von Sperrungen von Kanälen auf bestimmten Geräten (beispielsweise Apple-Geräten) über Zugangsbeschränkungen aus bestimmten Regionen (z. B. eine Sperrung europäischer Telefonnummern) bis hin zur gänzlichen Löschung von Accounts, Inhalten, Kanälen und Gruppen.

Während der Pandemie gerät die Plattform immer stärker unter Druck aufgrund der Kritik, nichts gegen den Hass und zahlreichen Gewaltaufrufen auf der Plattform zu unternehmen – ein Druck, der möglicherweise dazu führte, dass Telegram auf ihrer Plattform schließlich doch stärker durchgreift.

Telegrams größte Befürchtung ist es, aus den App Stores entfernt zu werden. Deshalb sperrt Telegram auf Apple-Geräten beispielsweise besonders schnell Kanäle und Gruppen, innerhalb derer pornografische Inhalte gezeigt oder Urheberrechte verletzt werden.

Bei antisemitischen und gewaltverherrlichenden Äußerungen agiert das Unternehmen hingegen oft nur willkürlich und unsystematisch.

Dies wird am Beispiel des Antisemiten Attila Hildmann besonders offensichtlich.

Der Antisemitismus und die Gewaltaufrufe in den Gruppen Hildmanns sind dabei – wie auch an vielen anderen Orten der Plattform – kaum zu leugnen.

Mittels eines gemeinsam mit Rewire entwickelten Machine-Learning-Ansatzes konnte CeMAS automatisiert Tausende von antisemitischen Nachrichten in Zehntausenden Kommentaren von Hildmanns Gruppen erfassen.

Auch Telegram könnte solche Methoden nutzen, um Kanäle und Gruppen zu identifizieren, auf denen es zu Gewaltaufrufen und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit kommt, und diese anschließend überprüfen. Ihre Systeme müssten erkennen, wenn nach Sperrungen Zweit- und Drittkanäle erstellt werden.

Telegram bewegt sich. Allerdings nur dann, wenn der Druck von außen groß genug ist und die Aufmerksamkeit auf den Hass, der auf der Plattform zu finden ist, das Risiko birgt, dass die Telegram-App aus den App Stores von Google und Apple entfernt werden könnte.

Diese Bedrohung führte in der Vergangenheit teils dazu, dass Telegram seine übliche Umgangsstrategie bei staatlichen Anfragen – das Ignorieren – aufgeben musste und sich öffentlich positionierte und sogar Maßnahmen wie Content Moderation ergriff. Ein Blick in die Unternehmensvergangenheit und wie das Team um Pawel Durow mit Forderungen staatlicher Akteure umging findet sich in einem ausführlichen Gastbeitrag von Darren Loucaides.

Illustration

Gastbeitrag
Darren Loucaides

Telegram:
Zwischen Ideologie und Pragmatismus als Kernelement der Unternehmensstrategie

Telegram war bisher keine rentable Plattform für den Gründer Pawel Durow. Versuche, über den Messengerdienst Geld zu verdienen, beispielsweise über Werbung, sind bisher größtenteils gescheitert.

In den vergangenen Monaten wurden jedoch Bezahlfunktionen auf der Plattform deutlich ausgebaut und neue Möglichkeiten sowohl zur Unterstützung Telegrams als auch von Kanalbetreibern entwickelt.

Die Einführung von Payment 2.0 und die Erweiterung der von Telegram zur Verfügung gestellten Bots @wallet und @donate lassen vermuten, dass die Plattform zukünftig noch verstärkter Bezahl- und Spendenfunktionen in die App integrieren wird. Darauf deuten auch die letzten Erweiterungen mit der Funktion über Telegram Nutzer:innennamen zu er- und versteigern hin. Laut Pavel Durov war dies sehr erfolgreich: Innerhalb weniger Wochen sei über die Telegram-Versteigerungsplattfrom Fragment mehr als 50 Millionen US-Dollar umgesetzt worden. Im Gegensatz zu vorherigen Monetarisierungsversuchen (beispielsweise durch Werbung auf der Plattform oder Premiumfeatures) waren hier erstmals Erfolge bezüglich der Monetarisierung des bisher wenig rentablen Telegram zu sehen.

Telegram’s next step is to build a set of decentralized tools, including non-custodial wallets and decentralized exchanges for millions of people to securely trade and store cryptocurrencies.

Mit dem Ausbau der Bezahlmöglichkeiten auf der Plattform ist zu befürchten, dass sich zukünftig noch mehr Akteur:innen professionalisieren können. Telegram wird langfristig das verschwörungsideologische und rechtsextreme Milieu stabilisieren, international vernetzen und es ihnen noch stärker ermöglichen, über die Plattform Gelder einzuwerben.

Telegram hat sich in nur wenigen Jahren zur wichtigsten Plattform für Verschwörungsideolog:innen und Rechtsextreme entwickelt. Nicht nur in Deutschland, sondern weltweit werden über Telegram Desinformation und Verschwörungserzählungen geteilt – und auch Finanzierungsmöglichkeiten über die Plattform wahrgenommen. Auch rechtsterroristische Gruppierungen nutzen die Plattform, um sich international zu vernetzen. Da Telegram derzeit daran arbeitet, die direkten Bezahlungsoptionen auf der Plattform weiter auszubauen, ist zu befürchten, dass sich zukünftig noch mehr Akteur:innen über die Plattform professionalisieren.

Um dieser Entwicklung gegenzusteuern und die Plattform-Betreibenden zu Handlungen zu bewegen, gibt es einige Erfolg versprechende Ansätze:

Öffentlicher Druck führt dazu, dass Telegram sich bewegt.

Telegram fürchtet um seine Reputation und vor allem die Konsequenz, aus den App Stores von Google und Apple entfernt zu werden. Öffentliche Berichterstattung über die Verfehlungen der Plattform sowie politischer Druck führten in der Vergangenheit oft dazu, dass Telegram handelte – wenn auch bislang unsystematisch.

Auch ohne Kooperation der Plattform sind Ermittlungen und Strafverfolgung oft möglich.

Die Festnahmen und Razzien der vergangenen Monate sowie zahlreiche investigative Recherchen zeigten, dass auch bei fehlender Kooperation der Plattformen die Ermittlung von Täter:innen möglich ist. Hierzu braucht es auch ein größeres Bewusstsein bei den (Ermittlungs-)Behörden für das Bedrohungspotenzial digitalen Hasses und digitaler Gewalt.

Demonetarisierung kann ein wichtiges Mittel zur Begrenzung von Desinformation und Verschwörungsideologie darstellen.

Die zunehmende Professionalisierung der Szene und die Möglichkeit der Finanzierung über Plattformen wie Telegram stellen uns vor große Herausforderungen. Mit mehr Mitteln ist auch mehr möglich. Da Telegram bisher kaum und nur willkürlich Sperren und Löschungen (sogenanntes Deplatforming) genutzt hat, ist es auch nötig, Maßnahmen in Betracht zu ziehen, die die monetäre Bereicherung mittels und die Finanzierung von Desinformation und Verschwörungsideologie verhindern, beispielsweise durch Informationen an Werbetreibende sowie Zahlungsdienstleister auf den Plattformen.

Content-Moderation muss transparent sein.

Telegram arbeitet sehr willkürlich bei Sperren und Einschränkungen. Meldungen von Kanälen und Inhalten auf der Plattform haben keine erkennbaren Auswirkungen. Transparenzberichte und externe Kontrolle, auch über gesetzliche Regelungen wie den Digital Services Act, müssen durchgesetzt werden.

CeMAS

Center für Monitoring, Analyse und Strategie gGmbH

CeMAS bündelt interdisziplinäre Expertise zu den Themen Verschwörungsideologien, Desinformation, Antisemitismus und Rechtsextremismus.

Der Report wurde gefördert durch die Alfred Landecker Foundation. Die Alfred Landecker Foundation fördert und beschleunigt die Entwicklung einer offenen, demokratischen und diskriminierungsfreien Gesellschaft. Die Stiftung ist ein Inkubator für Demokratie im digitalen Zeitalter. Sie setzt sich ein für eine zeitgemäße Erinnerungskultur und bekämpft Antisemitismus und Rassismus. Die Stiftung schafft Netzwerke, Räume und Wissen, indem sie interdisziplinäre Projekte unterstützt, fördert, vernetzt und professionalisiert. Durch den Aufbau eines Netzwerks global aktiver Partner:innen macht sie Wissen und Erfahrungen breit verfügbar und bringt unterschiedlichste Perspektiven aus Wissenschaft und Praxis an einen Tisch.